Mystikerin
Ich war 16 Jahre alt, als ich erfuhr, dass es nicht das Leid der Jüd:innen und Sozialist:innen war, das die Kirche im Dritten Reich in den Widerstand brachte, sondern der Moment, als es ihnen selbst an den Kragen ging. Es war eine Kirche, die zwischen innen und außen unterschied. Mir wurde klar, dass die Hoffnung auf eine bessere Welt nur von vielen getragen werden kann – auch von denen, die außerhalb der verfassten Kirchen stehen. Dieser Kampf von Innen und Außen war mir nicht fremd. Mein Vater, Juraprofessor, war nach innen den Nationalsozialisten kritisch gegenüber, doch nach außen arrangierte er sich mit ihnen, um in Ruhe gelassen zu werden.
1949 begann ich ein Studium der Philosophie und klassischen Philologie in Köln, wechselte aber zwei Jahre später zur evangelischen Theologie und Germanistik, unter anderem in Freiburg und Göttingen. Ich fragte mich, ob Gott lebt und wie es dann sein kann, dass es Auschwitz gab. Die Theologie gab mir Heimat für etwas, was ich in Kirche nicht finden konnte: den Einblick in die Mystik als Seele jeder Religion. Und die Einsicht, dass ohne Mystik jede Religion stirbt. Gerade das sah ich an meiner Kirche. Die Mystik bot mir einen unmittelbaren Zugang zu Gott. Sie überspringt die Trennung von innen und außen, von Auserwählten und Außenstehenden. Und gleichzeitig gab mir die Poesie die Möglichkeit, um Gott in Worten zu ringen, anstatt ihn mit Logik in Begriffe zu bringen. Ich entdeckte die Theopoesie.
Auf meiner Reise durch Lateinamerika lernte ich, dass das Wort Erlösung auch mit Befreiung übersetzt werden kann. Befreiung. Für alle. Weil Gott die Welt nicht für Wenige, sondern für alle geschaffen hat. Gerechtigkeit ist ein Name Gottes in der Bibel und der wird vor unser aller Augen abgeschafft. Was wir schon Jahre davor mit den politischen Nachtgebeten anfingen, wurde mir dort noch einmal bewusster: Theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen kommt einer Heuchelei gleich. Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein.
Am 27. April 2003 starb ich, Dorothee Sölle. Am Ende der Suche und der Frage nach Gott steht keine Antwort, sondern eine Umarmung.