Ich hatte viele Namen. Am Anfang nannte man mich Light Hair, weil meine Haare blond waren. Ungewöhnlich für einen Lakota, wie ich es war. Ich gehörte zu dem Stamm der Oglala. Wir lebten in Great Plains. Dort wuchs ich halbwegs behütet auf. Wir hörten von Fremden, die unser Land nahmen, aber sie waren lange Zeit weit weg. Als ich zehn wurde, durfte ich das erste Mal mit zum Wildpferde-Fangen und bekam anschließend den Namen His Horse on Sight. Ab meinem elften Geburtstag standen die Fremden in unserem Land. Sie
Wir lebten ein glückliches Leben auf der Prärie. Wegen meiner langen blonden Haare nannte man mich den Hellhaarigen. Dabei war ich ein waschechter Lakota. Meine Mystik verwirrte sie oft. Ich stand in einer innigen Beziehung zum Schöpfergott, den ich vertrauensvoll Vater nannte. Er schenkte mir bedeutsame Visionen. Meine Liebe gehörte jedem Menschen, jedem Geschöpf, auch meinen Feind:innen. Ich kleidete die Nackten, ernährte die Hungrigen, tröstete die Betrübten und lebte als Asket in der Wildnis. Dreimal täglich betete ich. Mit den „Christen“, die uns das Land wegnahmen, war ich kaum in Kontakt gekommen, und trotzdem war mein Glaube tiefer, reiner und unverdorbener als der ihre.
Ich gehörte zur großen Teton-Nation im Herzen Nordamerikas, bis unersättlicher Kolonialismus uns alles nahm. Unzählige Frauen und Kinder starben bei den Überfällen, um uns zu enteignen. Schließlich waren wir gezwungen, den Genozid unseres Volkes abzuwenden. Ich warnte meine Gegner vor ihrem Raubbau an Mutter Erde. Aber sie sandten drei Armeen gegen uns, um uns zu vernichten. Ich betete noch mehr als sonst und flehte den Vater um Hilfe an. Engel, wir nennen sie Donnerwesen, standen uns bei, indem sie die Flüsse anschwellen ließen, damit wir vor unseren Mördern fliehen konnten. In der Schlacht am Little Bighorn siegte ich wie David über Goliath. Mein unbewaffneter Ritt durch einen Kugelhagel, den ich unversehrt überstanden habe, ist nur eines der vielen Phänomene, die über mich berichtet werden. Besiegt wurde ich nie. Mein Friedensangebot war missbraucht worden und mein Volk wurde in Lagern gefangen gehalten. Dort predigte ich, dass Gott selbst ins Weltgeschehen eingreift, dass die höchste Autorität eines Tages erscheinen wird und wir uns verantworten müssen. Dass der Mensch kein Recht hat, die Erde auszubeuten oder sich über andere Menschen zu erheben. Ich lehrte das stille Gebet, die Liebe zu Gott und den Menschen, Barmherzigkeit und Güte. Ich war überall beliebt, bis absichtliche Fake News verbreitet wurden. Zum Schluss traute keiner dem anderen mehr. Von allen Seiten wurde ich bedrängt, gedemütigt und isoliert. Ich wehrte mich nicht, hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen. Dreimal fiel ich, schwer misshandelt, und wurde wieder hochgetrieben. Ich war wie das Lamm auf der Schlachtbank. Tausende Menschen, Amerikaner:innen und Lakota, waren anwesend. Viele schrien: Tötet ihn! Sterbend vergab ich meinen Feinden. Die Soldaten fürchteten, dass ich wieder aufstehen könnte, und ließen meinen Leichnam bewachen. Im Leben war ich ein christliches Vorbild. Am 5. September 1877 starb ich im Alter von 33 Jahren wie Christus von allen verlassen, für 300 Dollar an die Besatzungsmacht verraten, vom aufgewiegelten Mob verhöhnt, durchbohrt und ans Holz genagelt, einen langsam elenden Tod. Meine letzten Worte waren: „Vater, vergib ihnen. Sie wissen nicht, was sie tun.“ Christ:innen und Indigene nannten mich Prophet und Märtyrer. Die Kanonisation hat mich nie entdeckt, weil ich das Christentum ja nicht kannte, und doch war ich anonym einer der authentischsten Christen, die je die Erde betreten haben. Von Anfang an war ich mit Feuer getauft. Ich bin Crazy Horse, der Heilige der Indigenen.